Am Pfad der Pilger die Seele baumeln lassen
Im Grunde genommen sind Menschen wie wir, mit Ihren kultigen Kutschen und dem Drang nach Freiheit denen recht ähnlich, die sich hunderte Kilometer zu Fuß nach Santiago de Compostela aufmachen. Ein jeder sucht in der Fremde sein Heil, möchte zur inneren Ruhe finden und sich an der Natur erfreuen. Unverkennbare Parallelen von Bulli- Enthusiasten und Pilgern auf dem Jakobsweg.
Mit dieser Motivation im Gepäck verschlägt es uns motorisierte Pfadfinder an diesem sonnigen, neunzehnten Maitag
nach langer Abstinenz in die Ortschaft Thalwenden. Ganz in der Nähe und quasi durch einen schnellen Blick auf die Camping-Karte erwählt, ist die “Bergwiese Thüringen” im Eichsfeld unser Pilgerziel.
Das Thermometer klettert über die zwanziger Marke und wir verlassen die flimmernde Stadt, um einen Abstecher ins benachbarte Thüringen zu machen. Dieser kleine Trip ist seelisch bitter nötig, da die Instandhaltung des Bullis uns um Wochen in den Ausflugs-Rückstand gebracht hat. Auch wenn es hier und dort noch ein wenig klappert und ab und zu ein Kontrolllämpchen aufblinkt, fährt uns der 30 Jahre alte Bus entspannt durch diesen wunderschönen Landstrich. Ich, obwohl im westlichen Eichsfeld sozialisiert, habe diesen Teil noch kaum bereist und bin von dem sattgrünen Hügelland und den idyllischen Fachwerk-Dörfern sehr angetan. Hier scheint die Welt noch in Ordnung. Rauschende Bäche, weite Felder und bewaldete Berge bestimmen unsere Aussicht auf dem Weg zur Bergwiese Thüringen. Wir passieren Uder, die 1089 erstmals urkundlich erwähnte 2.666 Einwohner fassende Gemeinde liegt an der Leine und scheint perfekt eingebettet in die Landschaft des Obereichsfelds. Das Eichsfeld war ein historisches Territorium und ist heute Kulturlandschaft zwischen Harz und Werra. Die politische und kirchliche Zugehörigkeit zum Erzbistum Mainz bis 1802 erklärt,
warum dieser Landstrich bis heute eine katholische Insel innerhalb evangelischer Gebiete geblieben ist. Aufgrund dessen war meine evangelische Konfession zu Kindzeiten eher etwas außergewöhnli
ches und ich durfte ganz legal dem Religionsunterricht fernbleiben.
Auf der Fahrt durch Uder fallen uns markante “Grenzsteine” mit einer Art Sonnen-Symbol ins Auge. Auf den zweiten Blick lässt sich das Symbol als Jakobsmuschel und somit als Zeichen des Jakobsweges erkennen. Laut historischer Quellen führte im Mittelalter die sog. Communis Strata (Handels- und Heerstraße) durch das Eichsfeld. Auf diesem Weg pilgerten zahlreiche Menschen nicht nur nach Santiago de Compostela, sondern auch nach Köln und Aachen. In Uder versorgte ein vom Mainzer Bischof privilegiertes Tafelgut die Pilger mit allem Notwendigen. Dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass der Jakobusweg auch hier seine Wegweiser hat und Uder samt Wappen so offiziell zum Durchgangsort für Pilger macht. Auch wir sehen Uder als dieses an und fahren ins zwei Kilometer entfernte Thalwenden. Über “Dalewinthun” wie das 357 Seelen-Dorf noch um 1055 hieß, liegen weitläufige
Wiesen-und Weideflächen in fast schon alpenähnlicher Manier. Der Campingplatz macht seinem Namen inmitten dieser grünen Oase alle Ehre. Wie dem Aushang an der Einfahrt zu entnehmen ist, gibt es hier keine Rezeption. Der Besucher sucht sich ein Plätzchen seiner Wahl und klärt alles andere später. Klingt nach einem lässigen Rezept.
Wir finden den perfekten Stellplatz auf einer Terasse mit echtem Weitblick. Erich, der Platzwart kommt uns auf seinem E-Bike grüßend entgegen und erteilt uns dafür seine Absolution. Das Camp ist routinemäßig schnell aufgebaut. Der Blick auf die 400 Meter hohen Fixpunkte “Rusteberg” und “Die Gleichen” genau das richtige um wieder einmal runterzukommen. Als der Grill brennt und sich die Sonne auf großer Bühne atembraubend verabschiedet kehrt er ein dieser Frieden,
den man als moderner Pilger am Ziel seiner Tour irgendwann erreicht. Feuer am Abend ist kommunikativ und so gesellen sich Rubin und Jemma aus Groningen zu uns. Die beiden Niederländer fahren mit ihrem Fiat Punto und Hund Kiwi zwei Wochen durch Europa. Nach Deutschland soll es Polen und die Slowakei sein. Ein guter Moment um unsere Englisch-Kenntnisse aufzufrischen und unseren Gästen das Leid der deutschen Teilung näher zu bringen. Die Schafe Gegenüber scheinen sich zum Zählen bereit gestellt zu haben und so beginnt unsere erste Nacht im grünen Herzen Deutschlands.
Der nächste Tag startet früh und noch ein wenig frisch. Dackel Charly zittert wie Espenlaub als die erste Gassirunde ansteht. Alles ist ruhig und das Gras der Wiesen bewegt sich im Wind wie die Wellen des Ozeans. So schön, dass es fast schon wieder einschläfernd wirkt. Ein Blick aus der Tür des Bullis mit einem Capuccino in der Hand kann wirklich etwas
ganz Grosses sein. Das Frühstück nehmen wir ganz in Ruhe ein. Die Abkehr von der Hektik und Durchtaktung des Alltags steht an erster Stelle. Ein Spaziergang durch Thalwenden lässt unseren Puls ebenfalls nicht in die Höhe schnellen. Das Dorfleben scheint ruhig und auf manchen Hinterhöfen noch in der Zeit stehengelieben zu sein. Als Ausflugsziele für Wanderer hier in Thalwenden gelten die Mariengrotte (eine Grottenalnage mit Madonnen-Figur) und das Ibergkreuz auf dem 468 m hoch gelegenen Iberg.
Das Kreuz soll weithin sichtbar sein und bei guter Fernsicht könne man ohne Probleme von dort die höheren Erhebungen des Harzes inklusive Brocken erblicken, heisst es. Für mich Grund genug dieses Kreuz zu erwandern. Ich schnappe mir den Hund und mache mich auf in Richtung Iberg. Der Blick über den Campingplatz wird schöner je höher man kommt. Die Steigung jedoch nimmt nach einiger Zeit so zu, dass man glaubt bei einem
falschen Schritt den rutschigen Weg wieder hinunterzugleiten. Bei der Wetterlage eine schweisstreibende Sache. Als ich die erste Anhöhe erreicht habe erwartet mich fast völlige Stille in diesem lichtdurchfluteten Laubwald des Ibergs. Nur das Hecheln des Hundes und vereinzeltes Gezwitscher durchdringt diese Lautlosigkeit.
Ich schaffe noch ein paar hundert Meter muss dann aber wegen brennender Waden und falschen Schuhwerks den Rückweg antreten. Vorsichtig “slide” ich die Route hinab und lasse mich am Bulli bei einem eiskalten Getränk in den Fritz-Berger-Sessel fallen. Wir nehmen noch ein ausgedehntes Sonnenbad, bis wir uns wieder auf den Heimweg machen müssen. Eine kurze aber wunderbare Premiere, die uns schöne Momente und allerlei sakrales Wissen beschert hat. Wer in der Nähe sein sollte sei die Bergweise Thüringen sehr an Herz gelegt, ganz unabhängig von der individuellen Gottesfürchtigkeit.
Sehr schön, und wie wahr, die verschwiegenen Kleinode direkt “vor der Haustür” mag ich auch besonders. Bergwiese hat was …
Besten Gruß aus Siegen,
Dirk