Mein Platz in der Heimat
Fragt man die zur Zeit wohl angesagteste KI zum Begriff der Heimat, dann bekommt man folgende Antworten serviert: Die Heimat ist eng mit unserer Identität verbunden, denn sie prägt unsere Werte, Traditionen und unsere Art zu denken. Sie ist der Ort an dem wir unsere besten Erinnerungen und Erfahrungen gemacht haben und oft mit einem Gefühl
von Geborgenheit sowie Vertrautheit verbunden. Schlaues Ding, denn das kann ich genau so unterschrieben wenn es darum geht die Verbindung zu meinem Heimatdorf zu beschreiben. Genau dort hin zieht es mich an diesem vorletzten Freitag des Sommer-Septembers 2023. Meine Freunde aus Bilshausen, einem 1340 Einwohner zählenden Ort im Landkreis Göttingen, laden zum Stammtisch im benachbarten Wulften ein. Ein Event, dass in gewisser Regelmäßigkeit stattfindet, zu dem ich mich trotz seiner Nähe zur
Heimat aber nie wirklich hingezogen fühlte. Grund mag die abgelegene Lage der Gasttätte oder vielleicht auch ihr Ruf als Raucher-Paradies gewesen sein. Heute ist das anders, die Lust meine Kumpels wiederzusehen überwiegt und ich werde im Anschluss bei nahezu wolkenfreiem Himmel als Kröung des Abends in meinem Bus übernachten.
Besseres Wetter kann man sich eigentlich kaum vorstellen. Im spätsommerlichen Sonnenschein passiere ich mit Bruno die Grenzen des West-Eichsfelds. Der Weg führt mich über die Ortschaften Renshausen und Bodensee, die
ebenfalls einen festen Platz in meinen nostalgischen Erinnernungen einnehmen. Laut Wissenschaft lässt Nostalgie, also die Sehnsucht nach Gestern, das Gehirn Glückshormone ausschütten. Ein Effekt der bei mir immer wieder aufs Neue eintritt wenn ich die Gegend in und um mein Heimatdorf herum erreiche. Szenen aus der Kindheit, Jugend und dem frühen Erwachensein laufen unaufhörlich vor mir ab. Dazu noch ein Kreis aus Freunden, die mit mir teilweise sogar schon das Klettergerüst im ortseigenen Kindergarten
geteilt haben. Gründe genug um mich hier auch dreißig Jahre nach dem Umzug in die Stadt, einfach nur wohl zu fühlen. Ein Ort der Leichtigkeit also, während mich die Suche nach einem Übernachtungsplatz mit dem Van dort jedesmal vor eine echte Herausforderung stellt. Einsam und von keinem entdeckt kann man hier wie im Rest der Republik kaum stehen. Der Grund, Gassigeher! Es gibt eigentlich kaum einen Ort in der freien Natur an denen man ihnen nicht begegnet. Gerade Morgens trifft man garantiert immer auf einen Hundehalter, der getrieben vom Bewegungsdrang seines Vierbeiners hinaus an die frische Luft in Wald und Wiese gezogen wird. Eine Tatsache mit der man sich arrangieren muss. Viel mehr Sorgen machen mir allerdings Menschen, die Nachts die Abkürzung der Rüben-Schnellwege nutzen und dabei gerne mal unbekannte Autos am Waldesrand erkunden. Alles schon erlebt. Vielleicht ist es die Hoffnung dort ein triebiges Liebespaar zu beobachten, Bankräuber zu entlarven oder einfach nur der Drang diesem fremden Auto Schaden zufügen zu müssen. Wie gesagt, ich weiss als Dorfkind um solche hirnrissigen Gründe und
habe diese auf der Suche nach einem Freisteh-Platz zwangsläufig immer im Hinterkopf. Dazu würde mein Van weit ab von der Ortschaft lange Zeit ohne Insasse stehen und wäre solchen Freaks auf Gedeih und Verderb hilflos ausgeliefert. Zu weit weg darf es also nicht sein. Ein paar Runden zu den Spots, die ich mir bereits per Google Maps angeschaut habe und die Entscheidung steht fest: Der westliche Ortsrand mit Blick auf den “Großen Berg” besticht durch die Lage und hält einen relativ geschützten Stellplatz für mich bereit. Eine kurze Info an den Grundstücksinhaber, beruhigt zudem mein rechtschaffendes Gewissen und der gemütliche Teil des Abends kann beginnen. Der Zeitpunkt um kurz vor 19:00 Uhr ist perfekt gewählt, denn die Sonne verschwindet gerade am Horizont. Schön zu beobachten wie sie hinter dem Baumbestand der Anhebung langsam versinkt. Dort oben wurden übrigens vor geraumer Zeit Hügelgräber entdeckt, die beweisen, dass die Umgebung schon zur
Bronzezeit besiedelt war. Zudem erstrecken sich vor dem Großen Berg weitläufige Flurstücke, die vornehmlich den Begriff “Wolfskuhle” im Namen tragen. Ein Hinweis darauf, dass in diesem Gebiet vor langer Zeit wahrscheinlich einmal Fangeinrichtungen für Wölfe errichtet wurden, die meistens am Rand von Siedlungsgebieten zu finden waren. Wölfe hat bei den sich aktuell regenerierenden Beständen seit dem 18. Jahrhundert jedoch keiner mehr in Bilshausen gesehen. Auch ich vermag keinen Isegrimm in den letzten Strahlen der Sonne zu entdecken. Stattdessen nur absolute Ruhe eines goldenen Panorama-Moments und einige Erinnerungen an damals. Ich sehe uns in Kindestagen noch genau vor mir, wie wir uns im bunten Laub mit dem die tiefen Gräben am Straßenrand innerhalb des Großen Berges gefüllt waren wälzten, neben den englischen Soldaten bei einem Mannöver lagen und dabei unsere ersten
Fremdsprachekenntnisse zum besten gaben oder im Winter mit Langlaufskiern die kleinen Abhänge hinuntergesaust sind. Eine heile Welt und eine Kindheit wie sie nicht besser hätte sein können. Dorfkind zu sein war im Nachhinein betrachtet ein großes Geschenk, dass mir mein Vater durch seine Niederlassung als Zahnarzt hier auf dem Lande, hat zukommen lassen.
Warmherzig schwinge ich mich nach dem Untergang des Feuerballs auf mein Fahrrad. Zusammen mit meinen
Freunden fahren wir entlang der alten Bahnstrecke, die zum Fahrradweg umfunktioniert wurde, nach Wulften. Die bereits zum Harz zählende Gemeinde liegt übrigens an der Oder. Jener Strom, an dem ich weiter flussaufwärts als Kind wie auch auf einigen Touren mit dem Bus schon so einige schöne Stunden verbracht habe. Darin waten, baden, nach Steinen suchen oder eine ansehnlich, leckere Regenbogenforelle angeln. All das schwingt mit als ich über die Brücke der Oder rolle. Den großen Tisch in der Kneipe
besetzt, haben wir uns jede Menge zu erzählen. Kaum Neues aber um so mehr Altes, dass für Erheiterung sorgt, zum Nachdenken anregt und manchmal auch zu Tränen rührt. Das ist die Art von Themen, die einen solchen Abend bestimmen, wenn man sich länger nicht gesehen hat und die Anwesenden fast alle das 50te Lebensjahr bereits hinter sich gelassen haben. Biergeschwängert vergeht die Zeit wie im Flug. Als wir uns zurück auf den Heimweg machen, zeigt der kleine Zeiger auf die Zwei. So lange war ich schon seit Jahren nicht mehr wach! Am
Bus angekommen ist es fast 3:00 Uhr Morgens, doch
der klare Sternenhimmel mit seinen deutlich erkennbaren Sternzeichen lässt mich noch ein Weilchen nach oben starren bis ich mich dann völlig erschlagen in das Innere von Bruno begebe. Bis dahin fast regungslos öffne ich gegen 8:20 Uhr meine Augen und marschiere zum Wachwerden ein wenig den Feldweg in Richtung Wald hinauf. Sauerstoff, den ich nach dem intensiven Passiv-Rauchen des Vorabends dringend benötige. Noch ein paar Gassigeher begrüssen, dann soll es auch schon wieder nach Hause gehen. Doch so leicht macht es mir mein 35 Jahre altes Auto dann doch nicht. Die Gänge zicken wieder einmal herum
sitzen teilweise ziemlich fest. Ich schaffe es zum Glück noch zur Tankstelle in den Nachbarort um mir ein Frühstück zu schiessen, dass ich dann zurück am Großen Berg noch genüsslich verspeise. Mühselig geht es im Anschluss in Richtung Göttingen. Auf dem Weg dorthin versuchen die negativen Gedanken an die anstehende Reparatur des Vans die noch frischen Guten zu verdrängen. Keine Chance, die Heimaterinnerungen haben Überwasser, sitzen tief und helfen sogar das Hupen hinter mir, auch wenn ich mich immer weiter von dem Ort meiner Kindheit entferne, auszublenden. Denn wie meint die KI zum Abschluss ihrer Ausführungen: Heimat ist mehr als nur ein Ort – sie ist ein Teil von uns selbst. So ist es!